Guilt Fishing
Guilt Fishing ist eine Manipulationstechnik, die dein narzisstisches Gegenüber während des Gesprächs einsetzt.
Du versuchst, inhaltlich zu argumentieren und die gegenwärtige Situation gemeinsam mit der Person aufzuarbeiten. Doch sie schweift ständig ab und scheint überhaupt nicht auf deine Argumente einzugehen.
Stattdessen werden als Gegenargumente manchmal sogar Dinge vorgebracht, die rein gar nichts mit der jetzigen Situation zu tun haben. Die Person versucht die ganze Zeit, sie ins Gespräch einzuflechten und du hast das Gefühl, dass sie dich einfach nicht richtig versteht.
Doch dieses Abschweifen ist Absicht.
Es trägt auch nicht nichts zum Gespräch bei. Denn auch wenn du dich fragen magst, wieso die Person jetzt gerade damit kommt, hat es einen Grund…
… dein Gegenüber „angelt“ gerade!
Du hast richtig gelesen: es angelt… nach Schuldgefühlen.
Es streut emotionale Köder von allen Seiten her, um dich anzulocken, wie einen Fisch im Teich.
Vielleicht hast du am Anfang noch kein Interesse daran, den Köder zu begutachten. Doch du registrierst ihn bereits und nimmst ihn zur Kenntnis.
Dein Gegenüber hat Zeit und Geduld. Es kann warten, bis du anbeißt. Denn in der Regel kennt die Person dich und deine Reaktionen sehr gut. Sie hat dich lange und intensiv beobachtet und analysiert.
Mit der Zeit nimmt die Häufigkeit zu, mit der die Angel ausgeworfen wird. Die Vorwürfe werden mehr. Der moralische Zeigefinger bleibt immer länger oben. Die Empörung wird intensiver.
So werden für dich die Köder mit der Zeit immer verlockender.
Schließlich hältst du die Vorwürfe nicht mehr aus und greifst einen auf, um dich zu rechtfertigen. Du greifst nach dem Köder und…
… schon hat dich dein Gegenüber am Haken.
In diesem Moment trittst du in seine Welt, in sein Spiel mit seinen Regeln ein.
Was ist Guilt Fishing?
Guilt Fishing ist eine Strategie, um einen Streit zu „gewinnen“. Inhaltlich hätte die Person keine Chance, weil die Fakten, die Realität und die Wahrheit nicht auf ihrer Seite sind. Deshalb muss sie eigene Regeln erfinden und dich dazu bringen, nach diesen zu spielen.
Tatsächlich reicht es in diesem Fall leider nicht, die Wahrheit auf seiner Seite zu haben, um zu „gewinnen“.
Fakten haben keinen Effekt auf eine Person, die sie nicht annimmt.
Und genau darum geht es beim Guilt Fishing. Wenn dein narzisstisches Gegenüber „gewinnt“, muss es sich nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen. Es muss nichts zugeben, sich für nichts entschuldigen, für nichts geradestehen.
Und dafür tut es alles in seiner Macht Stehende. Denn im Unrecht zu sein und zu verlieren, wäre für einen Narzissten lebensbedrohlich. Er ist dieses perfekte Selbst, in das er einst geschlüpft ist. Jedenfalls hat er die tiefe Überzeugung, dass dem so ist.
Er darf also nicht im Unrecht sein und verlieren. Denn aus seiner Sicht ist er „ein Gewinner“ und „der Gute“. Deshalb kann für ihn nicht sein, was nicht sein darf.
Aus diesem Grund setzt er alles daran, so schnell wie möglich die Ebene zu wechseln. Er muss dich in seine Welt mit seinen Regeln hineinziehen.
Das bedeutet: weg von der inhaltlichen Ebene und hin auf die persönliche Ebene. Dort kann er dein Gewissen erreichen – das Einfallstor für narzisstische Manipulation.
Und so geht das Angeln nach Schuld los. Die Angel wird ausgeworfen, um auf deine Reaktion zu warten. Beißt du nicht an, wird sie eingeholt und ein neuer Köder ausprobiert.
Immer wieder werden Sätze gestreut, die dir Schuldgefühle machen sollen. Hier hast du etwas falsch gemacht, dort warst du zu faul, da warst du verantwortlich, da hat er dir einen Gefallen getan, dort schuldest du ihm noch etwas.
Auf den Punkt gebracht bedeutet Guilt Fishing also das Folgende:
Guilt Fishing ist die gezielte Aktivierung von Schuldgefühlen in dir. Über diese sollst du manipuliert und in einem scheinbar aussichtslosen Streit „besiegt“ werden.
Wie funktioniert Guilt Fishing?
Die 3 Köder
Beim Guilt Fishing geht es darum, dich wie einen Fisch an den Haken zu bekommen. Das Ziel ist es, dir Schuldgefühle zu machen, über die du manipulierbar bist.
Um dich erfolgreich an den Haken zu bekommen, muss der Narzisst einen passenden Köder an den Haken stecken.
Insgesamt gibt es 3 Köder, die zum Einsatz kommen:
Dirt Digging (Fehlersuche)
Favor Card (Gefallen vorbringen)
Fake Moral Outrage (Empörung)
1. Dirt Digging (Fehlersuche)
Der Köder Nr. 1, die Fehlersuche, zielt darauf ab, dich auf Fehler aufmerksam zu machen, die du in der Vergangenheit gemacht hast.
Dabei können tatsächlich gemachte Fehler mit vermeintlichen Fehlern vermischt werden, die dein Gegenüber lediglich als solche auslegt.
Besonders perfide ist auch, dass nicht selten angeblich längst vergebene oder vergessene Fehler plötzlich wieder hervorgeholt werden.
Du könntest zum Beispiel keine Zeit oder auch einfach keine Lust haben, die Person irgendwo hinzufahren, weil sie das ständig von dir verlangt und eigentlich auch selbst fahren könnte.
Dann wird eine Situation aus der Vergangenheit vorgebracht, in der du sie in einem wirklich wichtigen Moment nicht fahren konntest, weil du da schon lange zuvor ein Treffen mit alten Freunden geplant hattest:
„Das ist ja auch wieder einmal typisch und passt zu dir. Du warst ja damals auch so egoistisch und hast lieber mit deinen Freunden Kaffeekränzchen gemacht, statt mir zu helfen.“
In der Regel war es nicht einmal so, wie es nun dargestellt wird. Aber dein Gegenüber setzt darauf, dass du es selber nicht mehr genau weißt oder dich in dieser Situation für einen kurzen Moment hinterfragst.
Dann legt es gleich mit weiteren Ködern nach.
2. Favor Card (Gefallen vorbringen)
Der Köder Nr. 2 kommt von einer anderen Richtung her. Nicht deine Fehler werden hervorgeholt, sondern die Gefallen, die dir dein Gegenüber in der Vergangenheit gemacht hat.
Diese gemachten Gefallen werden nun verwendet, um das zu rechtfertigen, was es dir angetan hat bzw. gerade antut.
Selbst wenn dir der Gefallen aufgedrängt wurde oder er eigentlich gar nicht von dir gewünscht war, wird er dir um die Ohren gehauen.
Häufig machen Narzissten dir sogar bewusst irgendeinen Gefallen, der ihnen mehr entgegenkommt als dir, um danach einen ganz besonderen Gefallen von dir einzufordern. Sie suchen sich dabei nicht nur aus, welchen Gefallen, sie dir machen, sondern auch, welchen du im Gegenzug für sie machen sollst.
Wenn dir der Narzisst also ein Glas Wasser einschenkt, kann das ein strategischer Schachzug sein, um danach von dir fordern zu können, für ihn zum Kiosk zu gehen, um Zigaretten zu holen.
Tatsächlich ist die Favor Card sogar eine eigene Manipulationstechnik, die sehr häufig zum Einsatz kommt.
Mir hat zum Beispiel ein Freund ein Feature auf einem Song angeboten. Darauf war ein Künstler vertreten, den ich früher gehört hatte.
Aber zu diesem Zeitpunkt interessierte er mich eigentlich nicht mehr. Jedenfalls kam es mir so vor, als würde ich ihm damit einen größeren Gefallen tun, als er mir.
Aber als er später immer wieder Geld von mir auslieh, es mir bis zu einem bestimmten Zeitpunkt versprach und dann noch mehr erbettelte, konfrontierte ich ihn. Doch er antwortete nur:
„Sei bitte nicht so hart zu mir. Nach allem, was ich für dich getan habe.“
3. Fake Moral Outrage (Empörung)
Den Begriff „Fake Moral Outrage“ hat meines Wissens der englische Narzissmus-Coach Richard Grannon erfunden.
Dieser Köder Nr. 3 wird in einer ganz speziellen Situation ausgeworfen. Nämlich dann, wenn dein Gegenüber einen Vorwurf oder einen Angriff deinerseits vernimmt.
Das kommt ihm gerade gelegen. Denn vor allem, wenn er gerade im Begriff ist, auf der Inhaltsebene gegen dich zu verlieren, kann er nun auf die persönliche Ebene flüchten.
Dazu musste er strenggenommen nicht einmal einen Köder auswerfen, sondern du bist mit deinem „emotionalen Ausrutscher“ von selbst an den Haken gegangen.
Solche Ausrutscher macht er sich sofort zunutze und er stellt deine Moral infrage.
Dein leicht genervter Unterton, dein subtiler Vorwurf, deine kleine Beleidigung… all diese Dinge bauscht er mit einer falschen Empörung zu einem Riesenspektakel auf:
„Wieso tust du jetzt so aggressiv!?“
Meinen weiter oben erwähnten Freund zum Beispiel habe ich konfrontiert, nachdem er mich nachweislich belogen und betrogen hatte.
Doch anstatt auf meine Beweise und Zeugenaussagen in einem riesigen Textblock einzugehen, griff er nur einen kleinen, unbedeutenden Nebensatz heraus.
Ich hatte ihm geschrieben, dass ich aufgrund seines manipulativen Verhaltens der Ansicht war, er hätte ernsthafte psychische Probleme und sollte dringend in Therapie gehen. Das hier war seine Antwort:
„Mein Gott, Sandro. Das ist das Respektloseste, das jemals jemand zu mir gesagt hat. Psychische Probleme? Ernsthaft? Es ist unglaublich, wie du hier mit mir auf menschlicher Ebene umgehst. Ich meine, wow. So ist noch nie jemand mit mir umgesprungen, wie du es gerade tust.“
Er zeigte absolut uneinsichtig, obschon er mir im Verlauf eines Jahres einen fast 5-stelligen Betrag abgeluchst hatte und ich ihm seine Lügen schwarz auf weiß präsentierte.
Nicht ein einziges Mal hat er sich entschuldigt. Nicht einen einzigen Cent hat er mir jemals gegeben. Nicht einen einzigen Fehler hat er eingestanden, egal, wie sehr viele Beweise ich ihm vorlegte.
Stattdessen versuchte er, die Schuld mir in die Schuhe zu schieben.
Schuldumkehr
Das, was passiert wäre, wenn ich seine obige Aussage ernstgenommen und mich entschuldigt hätte, nennt man Schuldumkehr.
Bei der Schuldumkehr werden die Rollen von Opfer und Täter vertauscht, indem das ursprüngliche, inhaltliche Thema übergangen und ein belangloses, persönliches Thema aufgemacht wird.
Bist du erst einmal in deinem Schuldgefühl, fühlst du dich für alles schuldig, wenn der Narzisst es mit seinen Scheinargumenten richtig auslegt.
So gelangst du geradewegs in die sogenannte „Plausibilitätsfalle“. Das bedeutet, die Argumente scheinen zwar plausibel, sind aber bei genauerer Betrachtung völlig absurd.
Der Modus, in den du dabei gelangst, ist derselbe, wie der des Narzissten. Dort gibt es nur den Schlechten und den Guten, anstatt zwei Menschen, die beide manchmal Gutes und Schlechtes tun.
Wenn du den Fehler gemacht hast, dann bist du derjenige, der Fehler macht und er das Gegenteil. Wenn er dir den Gefallen gemacht hat, dann ist er der Hilfsbereite und Gutmütige. Wenn du ihn gerade angreifst, dann bist du der Unmoralische, der angreift.
Fazit
Der Manipulationsversuch meines Freundes war glücklicherweise zwecklos, da ich im Wutmodus war. Ich hatte zu viele Fakten gegen ihn in der Hand und fand sogar, dass er keinen respektvolleren Umgang verdiente, nachdem er mich so dreist betrogen hatte.
Dennoch kann ein solcher Dialog unabhängig vom eigenen Zustand sehr ermüdend sein.
Man muss, wie in einem Boxring, immer wieder irgendwelchen Ködern ausweichen. Und egal, was man für Argumente bringt, das Gegenüber geht nicht auf sie ein.
Mach dir aber keine Vorwürfe, wenn auch du irgendwann „anbeißt“. Dein Gegenüber ist womöglich ein wahrer Meister darin, nach Schuld zu angeln.
Außerdem ist es dermaßen getrieben von der Sucht, zu gewinnen und Recht zu haben, dass es ein unglaubliches Durchhaltevermögen an den Tag legt.
Mit der Zeit ermüdet fast jeder, wenn die Angelsaison losgeht und die narzisstische Person sich mächtig ins Zeug legt.
Die gute Nachricht ist:
Es gibt Wege, mit Guilt Fishing geschickt und gelassen umzugehen.
Du kannst dich hier zu einem unverbindlichen, kostenlosen Erstgespräch anmelden (die Coaching-Plätze sind allerdings stark limitiert).
Du solltest auf keinen Fall versuchen, die Situation zu verharmlosen oder gar zu beschönigen.
Die Person mag verdrängen und sich dessen nicht bewusst sein, was sie dir antut.
Doch die Tatsache, dass ein Mensch fähig ist, etwas derart moralisch Verwerfliches zu tun, zeigt nicht nur, wie toxisch, sondern auch, wie gefährlich er unter Umständen sein kann.
Egal, aus welchen Gründen er/sie regelmäßig nach Schuldgefühlen angelt: niemand hat das Recht, dich schlecht zu behandeln.
Dieses Verhalten langfristig aus deinem Leben zu verbannen, gehört zu einer gesunden Psychohygiene dazu.
Wenn der Mensch nicht bereit ist, sich zu ändern, dann helfen nur Kontaktabbruch/Kontaktreduktion und emotionale Abgrenzung.
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